Stellungnahme des Kreisvorstands Mainz/Mainz-Bingen

Kreisveband Linke Mainz

aus Anlass der Berichterstattung im „Spiegel“ vom 15.04.2022 über Vorwürfe zu sexuellen

Übergriffen in der LINKEN Hessen und Wiesbaden

 

Wir verstehen uns als Aktive in einer feministischen Partei. Gleichzeitig sind wir uns bewusst,

dass auch in der Partei die LINKE patriarchale Strukturen existieren, die Sexismus und

Übergriffe bis hin zu sexueller Gewalt begünstigen. Die Berichte von Betroffenen, die der

Spiegel am 15.04.2022 veröffentlicht hat, haben uns erschüttert. Sie machen für uns eines

besonders deutlich: Die LINKE braucht einen Neustart

Wir verstehen uns als Aktive in einer feministischen Partei. Gleichzeitig sind wir uns bewusst,
dass auch in der Partei die LINKE patriarchale Strukturen existieren, die Sexismus und
Übergriffe bis hin zu sexueller Gewalt begünstigen. Die Berichte von Betroffenen, die der
Spiegel am 15.04.2022 veröffentlicht hat, haben uns erschüttert. Sie machen für uns eines
besonders deutlich: Die LINKE braucht einen Neustart. Die sich nun anschließende öffentliche
Debatte unter dem #linkemetoo muss als Chance angenommen werden, die Partei nicht nur
programmatisch, sondern auch strukturell völlig neu aufzustellen. Der Veränderungsprozess
ist längst überfällig und nicht verschiebbar. Den Genoss:innen und Sympathisant:innen, die
ihre Gewalterfahrungen in der LINKEN jetzt teilen, danken wir für ihren Mut, ihnen gilt unsere
volle Solidarität. Ihre Perspektive muss in den Mittelpunkt rücken.
Gemeinsam Verantwortung übernehmen!
Die schmerzhaften Diskussionen, die wir als Partei nun werden führen müssen, haben wir uns
selbst zuzuschreiben – durch Nichthandeln, durch Wegschauen, durch Mitmachen. Als Partei
müssen wir hierfür gemeinsam Verantwortung übernehmen, ggf. auch indem wir Mitglieder
aus Debatten und/oder der Partei ausschließen, wenn es das Sicherheitsbedürfnis der
Betroffenen erforderlich macht oder sie die notwendigen Veränderungen und Aufklärung
aktiv verhindern. Für alle, die konstruktiv am Diskurs teilnehmen, muss es eine Fehlertoleranz
geben. Das gilt auch für jene, die vom Patriarchat profitieren und denen nun unverzüglich die
Aufgabe zukommt, sich selbst, das eigene Verhalten, sowie ihre Rolle und Haltungen
schonungslos zu hinterfragen, zu reflektieren und zu verändern. Untereinander brauchen wir
für den Diskurs Wohlwollen und Wertschätzung.
Die aktuelle Debatte wird emotional geführt. Das ist absolut nachvollziehbar. Die Berichte
über das Verhalten von Pateimitgliedern im Kreisverband Wiesbaden und dem Landesverband
Hessen machen auch uns vor allem wütend. Weitere Vorwürfe, die andere Landesverbände
und die Bundespartei betreffen, stehen im Raum. Wir rechnen daher mit noch mehr Berichten
von Betroffenen und zwar auch deshalb, weil wir alle schon Sexismus in der Partei erlebt oder
beobachtet haben. Toxische Männlichkeit ist auch in der LINKEN ein gravierendes Problem
und der Nährboden für verschiedenste Formen von Gewalt gegen Frauen und Angehörige
marginalisierter Gruppen.
Was jetzt getan werden muss
Als erstes müssen die im Raum stehenden Vorwürfe von einer unabhängigen Kommission so
weit wie möglich aufgeklärt werden – und das auch, nachdem die Staatsanwaltschaft
Wiesbaden ihre Ermittlungen gegen ein Parteimitglied in Wiesbaden eingestellt hat. Das gilt
auch für weitere Vorwürfe, die nun möglicherweise öffentlich werden. Dieser Prozess muss
sich an den Bedürfnissen der Betroffenen orientieren. Hierfür braucht die Partei
Unterstützung und Beratung von außen, die dafür benötigten finanziellen Mittel sind
bereitzustellen. Gleichzeitig müssen die Betroffenen alle notwendige Unterstützung erhalten,
mit dem Erlebten fertig zu werden.
Neben der Aufarbeitung, muss nun alles unternommen werden, dass nicht noch mehr
Menschen in der Partei die LINKE zu Betroffenen von (sexualisierter) Gewalt werden. Deshalb
muss auch überprüft werden, wo und wie unsere Strukturen, Gremien und Funktionär:innen
versagt haben, wenn sich Betroffene hilfesuchend an sie gewandt haben oder Übergriffe auf
anderem Wege öffentlich wurden. Aus den ermittelten Erkenntnissen kann und muss gelernt
werden.
Wir halten es für unproduktiv, die Debatte auf die Parteivorsitzende Janine Wissler zu
fokussieren. Wir verstehen, dass aus Sicht einer Betroffenen auch Janine Verantwortung trägt.
Die Presse hat diesen Vorwurf dankbar aufgegriffen, so dass in der Öffentlichkeit vor allem
über einen Rücktritt der Vorsitzenden spekuliert wird. Wir halten das für problematisch. De nn
erstens lenkt die Debatte von den Berichten der Betroffenen, der Verantwortung potentieller
Täter:innen und der Untersuchung der Vorwürfe ab. Und zweitens könnte der Eindruck
entstehen, dass Frauen für die Taten von Männern zur Verantwortung gezogen werden. Wir
geben zu bedenken, dass das (zurecht) höchst abschreckend wirken könnte, auf diejenigen,
die wir dringend für den Neuanfang in der Partei in verantwortlichen Positionen brauchen:
nämlich junge Frauen.
Den Rücktritt von Susanne Hennig-Wellsow bedauern wir. Wir glauben nicht, dass er
notwendig war, noch weniger glauben wir, dass er zum richtigen Zeitpunkt kommt. Janine und
Susanne verkörperten für uns einen Aufbruch in der Partei. Zum ersten Mal standen zwei
Frauen an der Spitze! Das allein verändert noch keine Partei und schon gar nicht über Nacht,
aber es hat uns Mut gemacht, dass die LINKE als Ganzes zu der Partei werden könnte, die wir
im Kreisverband im Kleinen schon aktiv gestalten. Eine Partei ohne Angst, ohne Gewalt, mit
gegenseitiger Wertschätzung und als Ort begeisternder und ermächtigender Erfahrungen für
alle Mitglieder im Kampf für den sozialistischen Wandel. Den Mut für Veränderung jetzt nicht
zu verlieren – dass ist für uns eine große Herausforderung.
Was wir als Kreisvorstand tun
Wir verstehen es als eine unserer wichtigsten Aufgaben als Kreisvorstand, patriarchale
Machtstrukturen zu bekämpfen und die LINKE Mainz/Mainz-Bingen zu einem sicheren Ort für
linkes parteipolitisches Engagement zu entwickeln. Damit begonnen haben wir mit unserer
Wahl im August 2020. Unser Ziel ist es, dass alle Parteimitglieder in unserem Kreisverband
Spaß an der politischen Arbeit haben und dabei ermächtigende und emanzipierende
Erfahrungen machen. Gewalterfahrungen, verbale und/oder physische wollen wir aktiv
verhindern. Wir glauben, unsere bisher getroffen Maßnahmen sind ein guter Anfang. Wir
wissen aber auch, dass weitere Maßnahmen notwendig sind.
Wir haben unsere Kommunikation und unsere Strukturen überprüft und uns für die
Zusammenarbeit im Kreisvorstand einen Kodex gegeben. Dieser ist auf unse rer Homepage für
alle zugänglich. Er hat dazu beigetragen, einen wertschätzenden Umgang zwischen den
Kreisvorstandsmitgliedern und zwischen Vorstand und Parteimitgliedern zu etablieren.
Unsere Strukturen, insbesondere die Gremienarbeit, haben wir von einigen Zugangs- und
Mitarbeitshürden befreit. Das Machtstreben Einzelner haben wir zurückgedrängt und dadurch
Freiräume geschaffen, für die Partizipation Vieler. Dabei gilt für uns: jede:r kann und soll sich
nach den eigenen individuellen Möglichkeiten einbringen. Wir geben uns gegenseitig Support
und Unterstützung, vor allem auch in Form von positivem Feedback.
Mit dem Beginn unserer Amtszeit haben wir ein Awarenessteam eingerichtet, dass
Anlaufstelle für alle Mitglieder und Sympathisant:innen der Partei werden soll, die von
Diskriminierung und/oder Übergriffen betroffen sind oder diese beobachtet haben. Zurzeit
übernimmt der Kreisvorstand noch viel Verantwortung beim Aufbau des Teams. Wir sind uns
jedoch bewusst darüber, dass das Team schnell unabhängig vom Kreisvorstand arbeiten muss.
Schon vor unserer Amtszeit hat sich ein „Feministischer Stammtisch“ (Femsta) im
Kreisverband gebildet. Die Treffen sind „Safer Space“ für Frauen und FINTA-Personen, um sich
auszutauschen, politisch aktiv zu werden und an de r Überwindung patriarchaler Strukturen
mitzuarbeiten. Wir sind der Überzeugung, dass letzteres nicht in erster Linie die Aufgabe von
(potentiell) Betroffenen ist. In der Verantwortung hierfür stehen die Vorsitzenden und die
gewählten Gremienmitglieder. Dieser Verantwortung stellen wir uns und wir werden uns auch
daran messen lassen, ob wir dieser Aufgabe ausreichend gerecht geworden sind.